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antriebstechnik 4/2019

antriebstechnik 4/2019

Fördermenge FORSCHUNG

Fördermenge FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG PEER REVIEWED EINFLUSS DER KONDITIONIERUNG AUF DIE DICHTFUNKTION Die Förderwirkung von Radial-Wellendichtringen aus NBR hängt von den Betriebsbedingungen der Konditionierung ab. Insbesondere die Wellendrehrichtung spielt dabei eine große Rolle. Bei einer Drehrichtungsumkehr nach längerem Betrieb der Dichtung in gleicher Drehrichtung, wird der Förderwert sehr klein oder sogar negativ. Dies führt bei Drehrichtungswechseln der Welle nach längerem Betrieb in eine Wellendrehrichtung häufig unmittelbar zu Leckage. Elastomer Radial-Wellendichtringe (RWDR) aus Acrylnitril- Butadien-Rubber (NBR) werden in hoher Stückzahl im Fahrzeug- und Maschinenbau eingesetzt. Der Werkstoff NBR ist im Vergleich zu anderen Elastomerwerkstoffen kostengünstig und daher häufig erste Wahl. Voraussetzungen für den Einsatz von RWDR aus NBR sind eine geringe thermische Belastung und eine chemische Kompatibilität mit dem abzudichtenden Schmierstoff. Bei der Entscheidung NBR als Dichtringwerkstoff einzusetzen, wird das Lastkollektiv häufig nicht berücksichtigt. RWDR aus NBR stoßen jedoch insbesondere bei Drehrichtungswechseln der Welle schnell an ihre Grenzen. Am Institut für Maschinenelemente wird genau dieser Einfluss von Drehrichtungswechseln auf die Dichtheit von RWDR aus NBR untersucht. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden nachfolgend vorgestellt. GRUNDLAGEN Elastomer RWDR werden eingesetzt, um rotierende Wellen gegen stehende Maschinenteile abzudichten. Der RWDR bildet zusammen mit der Welle als Dichtungsgegenlauffläche und dem abzudichtenden Fluid ein tribologisches Dichtsystem (Bild 01). FUNKTIONSWEISE VON RADIAL-WELLENDICHTRINGEN RWDR aus Elastomer bilden im dynamischen Betrieb einen Rückfördermechanismus aus. Verantwortlich für die Ausbildung des Rückfördermechanismus ist die asymmetrische Pressungsverteilung im Dichtkontakt. Die asymmetrische Pressungsverteilung wird durch die unterschiedlichen Dichtkantenwinkel hervorgerufen (Bild 02). Der stirnseitige Dichtkantenwinkel muss dabei zwingend 146 antriebstechnik 2019/04 www.antriebstechnik.de

PEER REVIEWED FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG größer sein als der Bodenseitige [2]. So wird das Pressungsmaximum im Dichtkontakt etwas zur Stirnseite hin verschoben. In der Fachliteratur [3], [4] und [5] wurden verschiedene Förderhypothesen beschrieben, um den Rückfördermechanismus zu erklären. Zu nennen sind die Seitenstrom-, die Oszillations- und die Verzerrungshypothese. An dieser Stelle soll jedoch nur auf die Verzerrungshypothese näher eingegangen werden, weil am Ende dieser Arbeit noch einmal darauf zurückgegriffen wird. Kammüller [5] entwickelte in seiner Arbeit die Verzerrungshypothese und beschreibt hierdurch die Förderwirkung von RWDR aus Elastomer. Die Verzerrungshypothese sieht die Förderwirkung als Folge der reibungsbedingten Dichtkantenverzerrung bei einer Relativgeschwindigkeit zwischen Dichtring und Welle. Durch die asymmetrische Pressungsverteilung im Dichtspalt wird das Elastomer im Dichtkontakt asymmetrisch verzerrt (Bild 02). Die Voraussetzung für eine ausgeprägte Fluidförderwirkung im Dichtspalt sind axiale Verschleißstrukturen auf der Dichtkante, die während des Konditionierungsvorgangs gebildet werden. Diese axialen Verschleißstrukturen werden im Betrieb schräg zur Schlepprichtung des Öls verzerrt und wirken wie kleine Kanäle, die Fluid axial ablenken und so einen Förderstrom erzeugen. Da die bodenseitigen Kanalflanken infolge der asymmetrischen Pressungsverteilung länger sind als die stirnseitigen Flanken, kommt es in Summe zu einer gerichteten Förderwirkung in den abzudichtenden Raum hinein. Die Dichtkante muss einen gewissen „Startverschleiß“ aufweisen, dass die Förderwirkung des Dichtrings voll ausgeprägt ist. Dieser funktionsrelevante Dichtkantenverschleiß erfolgt in den ersten Betriebsstunden einer Dichtung. Diese Einlaufphase wird auch als Konditionierung bezeichnet. Ölseite/ Stirnseite 01 Komponenten einer Radial-Wellendichtung [1] Fluid Ölseite Laufspur Membran Dichtkante 02 Verzerrungshypothese [7] asymmetrische Pressungsverteilung Dichtring Luftseite Gehäuse Welle Luftseite/ Bodenseite DICHTRINGWERKSTOFF ACRYLNITRIL-BUTADIEN-RUBBER Der Dichtringwerkstoff NBR gehört zur Gruppe der Elastomere. Elastomere sind hochmolekulare Polymere, die sich aus Verkettung einzelner Monomere zusammensetzen. Die Verbindungen zwischen den Monomeren werden über funktionelle, reaktionsfähige Gruppen hergestellt. Häufig wird für den Werkstoff NBR die Vernetzungsart der Schwefelvernetzung eingesetzt [6]. Abhängig von der Vernetzungsart und dem Vernetzungsgrad können sich die Eigenschaften von Elastomeren stark verändern [6]. Elastomere zeigen bei mechanischer Beanspruchung ein ausgeprägtes viskoelastisches Verhalten [6]. Zudem treten Alterungsvorgänge im Elastomer auf. Der Begriff Alterung ist eine allgemeine Beschreibung für die Veränderung von Werkstoffeigenschaften über der Zeit. Die Alterung kann auf verschiedene Vorgänge im Elastomer zurückzuführen sein. Typische Alterungsvorgänge im Elastomerwerkstoff sind Polymerkettenspaltungen und Nachvernetzungen zwischen den einzelnen Polymerketten. Die Alterung bei Elastomeren führt i. d. R. zu einem Anstieg der Elastomerhärte und zu einer Reduzierung der Verformbarkeit. Der Alterungsprozess ist stark temperaturabhängig [6]. Je größer die Temperatur, desto schneller läuft der Alterungsprozess ab. All diese Vorgänge im Elastomer können herangezogen werden, um die Versuchsergebnisse in dieser Arbeit zu erklären. Im weiteren Verlauf wird daher noch einmal auf die Alterungseffekte im Elastomer zurückgegriffen. Im Stillstand: unverzerrte Verschleißstrukturen asymmetrische Verteilung der Reibungsschubspannung Netto-Fluidförderung Bei Wellenrotation: asymmetrisch verzerrte Verschleißstrukturen FÖRDERWIRKUNG DURCH DIE WELLENOBERFLÄCHE Die Dichtungsgegenlauffläche kann bei Rotation der Welle eine Fluidförderwirkung im Dichtkontakt hervorrufen. Diese Förderwirkung ist entweder aus dem abzudichtenden Raum heraus oder in den abzudichtenden Raum hinein gerichtet. Die Förderrichtung der Dichtungsgegenlauffläche im Dichtkontakt ist abhängig von der Drehrichtung der Welle. So führen die beiden Wellendrehrichtungen bei ausreichend förderaktiver Welle entweder zu einer Mangelschmierung des Dichtsystems oder direkt zu Leckage. In beiden Fällen muss mit einem Ausfall der Dichtung gerechnet werden. Nach Baumann [7] führen Drallstrukturen zu genau dieser drehrichtungsabhängigen Förderwirkung der Dichtungsgegenlauffläche. Die Drallstrukturen können mit verschiedenen Mess- und Auswertemethoden erfasst und anschließend bewertet werden. So können Wellen mit ausgeprägter Neigung zur Fluidförderung im Dichtsystem vorab erkannt werden. Für die Untersuchungen in dieser Arbeit kommen nur drallfrei im Einstich geschliffene Versuchswellen zum Einsatz. Diese wurden vor der Versuchsdurchführung umfassend messtechnisch untersucht und können anhand der Messauswertung als weitgehend förderneutral bewertet werden. Trotzdem muss bedacht werden, dass einstichgeschliffene Wellen nie vollkommen förderneutral sind und stets eine gewisse drehrichtungsabhängige Förderwirkung aufweisen. Aus diesem Grund muss die Förderwirkung der Welle durch die Wahl einer geeigneten Untersuchungsmethode eliminiert werden, wenn die Förderwirkung des Dichtrings untersucht werden soll. Diese Untersuchungsmethode wird im weiteren Verlauf noch ausführlich beschrieben. REIBUNGSZUSTAND IM DICHTKONTAKT Der Reibungszustand im Dichtkontakt ist abhängig vom Betriebszustand. Dieser Zusammenhang wird im Reibzahl-Diagramm dar- www.antriebstechnik.de antriebstechnik 2019/04 147