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antriebstechnik 11/2015

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LINEARTECHNIK Dem Beton

LINEARTECHNIK Dem Beton der Zukunft auf der Spur Präzises Mehrachsenportal unterstützt Forschungsprojekt der Uni Stuttgart Christian Winkel An der Universität Stuttgart entwickelt ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern eine Methode zur Fertigung von gradierten Betonbauteilen. Um die verschiedenen Betonmischungen zuverlässig und exakt in die richtige Form zu bringen, nutzen die Forscher ein Mehrachsenportal. Dessen robuste Bauweise und hohe Dynamik ermöglichen eine automatisierte Fertigung mit reproduzierbar genauen Ergebnissen. Ob Wohnhaus oder Wolkenkratzer, Autobahnbrücke oder Eisenbahntunnel: Beton ist einer unserer wichtigsten Baustoffe, ohne den die meisten modernen Bauwerke undenkbar wären. Aber: Die Herstellung von Zement, dem Grundstoff für Beton, verursacht jährlich einen CO 2 -Ausstoß, der drei- bis viermal höher ist als der des gesamten weltweiten Luftverkehrs. Der Grund: Das Rohmaterial, das zu einem großen Teil aus Kalkstein besteht, wird in Hochöfen bei Temperaturen von 1400 bis 1450 °C gebrannt – oft mit fossilen Brennstoffen. Beim anschließenden Herunterkühlen wird das im Kalk gebundene Kohlendioxid freigesetzt – die nach der Verbrennung zweitgrößte CO 2 -Quelle. Zwar werden die Verfahren mit der Zeit umweltfreundlicher, doch immer noch entfallen rund 6 % der weltweiten CO 2 - Emissionen auf die Zementindustrie. Vorbild aus der Natur Hersteller von Betonbauteilen sind daher an Lösungen interessiert, mit denen sich Dipl.-Ing. Christian Winkel ist Geschäftsführer der Winkel GmbH in Illingen Material einsparen und damit kostengünstiger und umweltschonender produzieren lässt. Ein vielversprechendes Verfahren ist die sogenannte Gradierung des Betons. Dabei werden die Bauteile entsprechend ihrem statischen und bauphysikalischen Belastungsprofil mit variablen Materialeigenschaften gefertigt: Dort, wo das Bauteil z. B. hohen Belastungen ausgesetzt ist, kommt eine dichte Betonmischung mit hoher Festigkeit zum Einsatz. An Stellen mit niedriger Beanspruchung sorgt eine poröse Mischung für eine erhebliche Materialersparnis und ein geringeres Gewicht. „Wir kennen dieses Prinzip von zahlreichen Beispielen aus der Natur, z. B. vom Aufbau unserer Knochen“, erläutert Mark Wörner vom Institut für Systemdynamik (ISYS) der Universität Stuttgart. „Außen, wo große Kräfte auf den Knochen wirken, ist er hart und fest – im Inneren dagegen elastisch und porös. Das macht ihn leicht und gleichzeitig hochbelastbar.“ Wörner und seine Kollegen sind Teil eines interdisziplinären Forschungsprojekts der Universität Stuttgart: Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Instituts für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) sowie des Instituts für Werkstoffe im Bauwesen (IWB) arbeiten sie an einer Methode, gradierte Betonteile für den Einsatz in der Bauindustrie herzustellen. Dabei hat sich das Trockenspritzen als geeignetes Verfahren herausgestellt: Zwei unterschiedliche Betonmischungen werden in einer Mischdüse nach Bedarf vermengt und anschließend in die gewünschte Form gespritzt. Mit dem Mischungsverhältnis ändern sich die Eigenschaften des Materials – je nachdem, ob gerade ein fester, belastbarer oder ein leichter, poröser Beton benötigt wird. Automatisierung für reproduzierbare Ergebnisse „Für den industriellen Einsatz ist es besonders wichtig, dass wir reproduzierbar genaue Ergebnisse erzielen“, erklärt Wörner. Dies ist bei einem groben Vorgang wie dem Betonspritzen eine große Herausforderung: Jede unkontrollierte Bewegung der Spritzdüse, jede Schwankung im Abstand zwischen Düse und Auftragsfläche kann die Materialeigenschaften des Bauteils verändern – von Ungenauigkeiten im Mischungsverhältnis ganz zu schweigen. „Auf manuellem Weg lässt sich das nicht effizient bewerkstelligen“, meint Wörner. „Deshalb versuchen wir, den gesamten Fertigungsprozess soweit wie möglich zu automatisieren.“ Die Wissenschaftler entwickelten dafür ein automatisiertes Applikationssystem, mit dem sich die verschiedenen Variablen 110 antriebstechnik 11/2015

LINEARTECHNIK des Spritzprozesses präzise und nachvollziehbar steuern und verändern lassen. Die Führung der Spritzdüse übernimmt dabei ein Schwerlast-Mehrachsenportal vom Typ SLE (Stahl-Linear-Einheit) des Lineartechnik-Spezialisten Winkel. Mit diesem lässt sich die Düse dreidimensional bewegen: Die Verfahrwege betragen 3000 mm auf der X-Achse, 2200 mm auf der Y-Achse und 800 mm auf der Z-Achse. An letzterer haben Wörner und sein Team einen Hexapod montiert, mit dem sich die Spritzdüse zusätzlich unabhängig von dem Portal bewegen lässt. Damit können die Forscher den Betonspritzprozess bis ins Detail steuern und variieren, um so zu einem optimalen Ergebnis zu gelangen. Die Linearachsen des Portals werden mit gehärteten Zahnstangen und Ritzeln angetrieben. Die Führungen basieren auf Winkel-Rollen mit den dazugehörigen Profilschienen. Auch größere Wege und Hübe können mit diesem System realisiert werden. Es ist unempfindlich gegenüber Schmutz und Verschleiß, hoch belastbar und langlebig. Die Tragkraft an der Z- Achse kann zwischen 50 und 5000 kg betragen. Mit Wiederholgenauigkeiten von +/- 0,5 mm und einer Geschwindigkeit von bis zu 2 m/s sind die Linearachsen gleichermaßen präzise und dynamisch. Der Kontakt zu Winkel entstand bereits vor ein paar Jahren auf der Fachmesse Motek, erinnert sich Wörner: „Wir waren auf der Suche nach einer Lösung, die auch unter den extrem rauen Einsatzbedingungen zuverlässig funktioniert.“ Beim Trockenspritzen von Beton bilden sich große Mengen von Zementstaub. Außerdem prallt ein Teil des Spritzguts – der sogenannte Rückprall – von der Auftragsfläche ab und landet auf der Anlage, was insbesondere bei den Linearführungen für Störungen sorgen kann. „Das robuste Winkel-Schwerlastportal war für unsere Zwecke am besten geeignet, weil es mit diesen widrigen Bedingungen mühelos klarkommt“, beschreibt Wörner. Für besondere Freude sorgte die Zusage von Winkel, die Universität Stuttgart mit dem Portal und dem entsprechenden Know-how bei der Forschung an diesem innovativen Herstellungsprozess zu unterstützen. Robust und dynamisch zugleich Die Experten von Winkel entwickelten eine Lösung genau nach den Vorgaben des ISYS, die auf die Anforderungen des Forschungsprojekts zugeschnitten war. Aufbau und Inbetriebnahme der Anlage erfolgten in Zusammenarbeit. „Neben den rauen Einsatzbedingungen war auch die Dynamik ein wichtiges Kriterium“, erläutert der Vertiebsleiter von Winkel, Athanasios Loupas. Denn die Düsenführung muss während des Spritzprozesses schnelle Bewegungen und Richtungsänderungen durchführen können. „Mit einer Verfahrgeschwindigkeit von bis zu 1 m/s und einer Beschleunigung bis 2 m/s2 erfüllt unser Portal diese Vo raussetzung voll und ganz“, erklärt der Vertriebsleiter. Mithilfe des Mehrachsenportals konnte das Forscherteam einen vollautomatischen Fertigungsprozess realisieren: Die zwei Betonmischungen stehen in jeweils einem Silo bereit. Die Prozesssteuerung ermittelt auf Basis der statischen Kennzahlen ein Gradientenlayout, also mit welcher Dichte das Bauteil an welcher Stelle gefertigt werden muss, und veranlasst das entsprechende Mischungsverhältnis. Die Spritzdüse trägt die Betonmischung Schicht für Schicht auf eine Form auf. Auch die Bewegungen des Portals und der Spritzdüse werden automatisch gesteuert. „Somit entsteht ein reproduzierbarer Vorgang, bei dem wir sämtliche Parameter erfassen und dokumentieren können“, erläutert Wörner. „Wir können also feststellen, welche Auswirkungen eine Veränderung im Fertigungsprozess auf das Endergebnis hat und so das Verfahren optimieren.“ Seit 15 Monaten ist das Mehrachsen portal bei der Universität im Einsatz. Für die Wissenschaftler ist das Projekt äußerst vielversprechend: „Momentan sind wir zwar noch in der Forschungsphase, aber wir hoffen, die Technologie in den nächsten Jahren bis zur Serienreife zu entwickeln“, sagt Wörner, und fügt hinzu: „Ohne die Unterstützung von Winkel wäre dieses Projekt so nicht möglich.“ Sollte das Gradierungs verfahren eines Tages industriell genutzt werden können, hätte es das Potential, die Herstellung von Betonbauteilen zu revolutionieren: „Es ließen sich damit bis zu 60 % der bisherigen Masse einsparen – und damit auch 35 % des CO 2 -Ausstoßes“, betont Wörner. Nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus ökologischer Sicht wäre das ein bedeutender Fortschritt. www.winkel.de 01 An der Z-Achse ist ein Hexapod montiert, mit dem sich die Spritzdüse zusätzlich unabhängig vom Portal bewegen lässt 02 Die Spritzdüse trägt die Betonmischung Schicht für Schicht auf eine Form auf 03 Die Bewegungen des Portals und der Spritzdüse werden vollautomatisch gesteuert antriebstechnik 11/2015 111