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antriebstechnik 1-2/2023

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antriebstechnik 1-2/2023

SPECIAL: SAFETY UND

SPECIAL: SAFETY UND SECURITY ROTATIONSBREMSEN IN ANTI-TREMOR-ORTHESE BESONDERS HILFREICHE TECHNIK Weltweit leiden über 30 Millionen Menschen unter unwillkürlichem Zittern in den Armen als Folge der Parkinson-Krankheit oder des essenziellen Tremors. Diesen Menschen zu helfen, ist die Mission eines niederländischen Start-Ups. Das innovative Unternehmen hat sich mit einem Stoßdämpferhersteller aus Deutschland für die Entwicklung einer besonderen Anti-Tremor-Orthese zusammengetan. Tremor ist definiert als eine rhythmische, unwillkürliche oszillierende Bewegung eines Körperteils. Obwohl jeder Mensch von Zeit zu Zeit zittert, zum Beispiel bei Nervosität, beeinträchtigt dieses leichte Zittern alltägliche Aktivitäten des Menschen nicht. Jedoch führen andere Pathologien zu einem behindernden Tremor. So ist der essenzielle Tremor die häufigste neurologische Bewegungsstörung und betrifft weltweit knapp sechs Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre. Behandlungen ohne Medikamente, die das Zittern durch die Modifikation der Biomechanik der Gliedmaßen wirkungsvoll adressieren, können eine sinnvolle Alternativlösung darstellen. Diesen Ansatz verfolgt das niederländische Start-Up Stil mit der neuartigen Orthese zur Zitterstabilisierung. EIN GEISTESBLITZ IJsbrand de Lange, CEO und Gründer des Start-Ups, kam erstmals 2014 auf die Idee einer biomechanischen Hilfe, als er ein Video über Menschen mit Parkinson-Krankheit sah. Er erzählt: „Bei diesem Zittern handelt es sich um unwillkürliche Bewegungen in den Armen, die entstehen, wenn die Muskeln wiederholt zusammengezogen und gelöst werden. Ich betrachtete dies im Grunde auch als mechanischen Defekt, zumal ich seinerzeit als Maschinenbaubachelor das Problem aus technischer Perspektive sah. Wenn eine Maschine unwillkürlich vibriert, lassen sich aktive Robert Timmerberg M.A, Fachjournalist (DFJV), plus2 GmbH, Düsseldorf oder passive Dämpfungstechniken anwenden und damit Probleme lösen. Warum sollte das bei einer Person nicht funktionieren, dachte ich. Die Idee blieb mir im Kopf und dann hatte ich einen Geistesblitz.“ So baute de Lange für seine Masterarbeit ein Proofof-Principle-Experimentalgerät, das Erschütterungen replizieren und unterdrücken konnte. Obwohl dieses Gerät seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckte, bewies es bereits, dass sich mechanische Kräfte effektiv zur Unterdrückung von Zittern einsetzen lassen. TECHNIK AGIERT GEGEN ZITTERN Auf dieser Grundlage wurde das Start-Up im Jahr 2017 gegründet. Nach viel Forschungsarbeit entwickelte das Team in Zusammenarbeit mit Patienten und Ärzten eine tragbare Lösung, die das Zittern unterdrückt. Dieses Medizinprodukt leitet über eine kinematische Struktur mit mehreren künstlichen Gelenken biomechanische Kräfte von der Hand auf den Oberarm um. Dieses patentierte Design ermöglicht die volle Bewegungsfreiheit des Arms. Zudem sind in jedem der Gelenke spezielle Dämpfer integriert, die der hochfrequenten Oszillationsbewegung des Tremors entgegenwirken, aber beabsichtigte Bewegungen zulassen. Diese Kombination macht die Orthese laut dem Start-Up weltweit einzigartig und ermöglicht Tremor-Patienten wieder selbstständiges Essen und Trinken. Die Ingenieure entwickelten auf technischer Seite mehrere Generationen der Orthese, die in Fachkreisen für Aufmerksamkeit sorgten. Kooperationen auf internationaler Ebene folgten wie etwa ein Eurostars-Projekt zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für 34 antriebstechnik 2023/01-02 www.antriebstechnik.de

SPECIAL: SAFETY UND SECURITY Biomedizinische Technik. Gleichzeitig verbessert das Team kontinuierlich die Konstruktion, teilweise durch Beschaffung verfügbarer Standard-Maschinenelemente. Letzteres war der Fall bei der Identifizierung der richtigen Komponente, die man in die Orthese integrieren musste, um bei der Dämpfung und Steuerung von Handund Handgelenksbewegungen zu helfen. Die Ingenieure versuchten zunächst, handelsübliche Rotationsbremsen zu verwenden, stellten jedoch schnell fest, dass diese Komponenten für den Anwendungsfall nicht geeignet waren. Als das Engineering-Team Unterstützung vom Lieferanten für eine maßgeschneiderte Dämpfungslösung benötigte, konnten diese nicht weiterhelfen und man geriet in eine Sackgasse. MECHANIK IN DER MEDIZIN Während ihrer Recherche identifizierten die Entwickler die Firma ACE Stoßdämpfer, die als möglicher Kooperationskandidat in Frage kam. Da die Firma sowohl mit mechanischer Vibrationskontrolle als auch mit Anwendungen im medizintechnischen Bereich vertraut ist, konnte sie direkt spezifisches Wissen für den Anwendungsfall der Orthese einbringen. So ließen sich im Produktportfolio verschiedene Typen von Rotationsbremsen finden, die bei Tests mit Patienten vielversprechende Ergebnisse lieferten. Dazu Han Titulaer von ACE: „Als wir die Anforderungen in Bezug auf Dämpfungseigenschaften, Dimensionierung und Lebensdauer sahen, gab es auf dem Markt noch keine passenden Dämpfungslösungen. Und es wurde noch schwieriger, wenn man bedenkt, dass wir diese in ein Gerät integrieren müssen, das Patienten jeden Tag tragen.“ In Summe hatte man die Bedürfnisse der Patienten und die entsprechende Leistung der Dämpfer genau vor Augen, aber nicht die Ressourcen, um das passende physische Produkt zu erzeugen. DREI GENERATIONEN VON BREMSEN Die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen begann mit der Definition von Benutzer- und technischen Anforderungen wie dem gewünschten Frequenzverhalten und axialen Belastungskräften. Darüber hinaus ist für diese spezielle Anwendung kein Rückschlag zulässig. Andernfalls würde die zitternde Bewegung vom Dämpfer nicht richtig aufgenommen und stattdessen im Spiel verloren gehen. Ein solches Merkmal wird bei handelsüblichen Komponenten selten erreicht. Und nicht zuletzt muss das Produkt eine höhere Lebensdauer als eine herkömmliche Rotationsbremse haben. Nach der Entwicklung der ersten Prototypen wurden zunächst technische Überprüfungen durchgeführt, bevor die Validierung mit Patienten erfolgte. Alles in allem wurden im Zuge der iterativen Zusammenarbeit drei Generationen von Rotationsbremsen entwickelt, bis das Team die Ideallösung erreichte. Danach gab es grünes Licht, um die Spezialserie der Rotationsbremsen in der ersten klinischen Studie zu verwenden, die bis Ende 2022 abgeschlossen sein soll. Sind auch diese Ergebnisse positiv, wird das Unternehmen sein neues Medizinprodukt mit dem CE-Kennzeichen versehen können. „Es war sehr aufregend für uns, Teil dieses interessanten Projekts zu sein. Das Team von STIL hat ein innovatives Produkt entwickelt, das vielen Menschen im Alltag helfen kann. Wir freuen uns sehr, dass wir die gesuchte Dämpfungslösung liefern konnten und wünschen dem Unternehmen weltweit viel Erfolg“, erklären Dr. Peter Kremer und Heiner Tapken von ACE. Das niederländische Start-Up steht nun kurz davor, die Anti-Tremor-Orthese auf dem heimischen Gesundheitsmarkt einzuführen. Die Einführung der Orthese in weiteren europäischen Ländern ist für 2024 geplant, mit Deutschland als dem Pilotmarkt. Bilder: ACE, STIL B.V. www.ace-ace.de Tragbar: Die Anti-Tremor-Orthese hat eine speziell entwickelte Dämpfungslösung DIE IDEE „Bei der Parkinson-Krankheit handelt es sich um unwillkürliche Bewegungen in den Armen. Aus rein technischer Sicht ist das ein mechanischer Defekt. Wenn beispielsweise eine Maschine unwillkürlich vibriert, lassen sich Dämpfungstechniken anwenden, warum soll das bei einer Person nicht auch funktionieren? In der Orthese sind spezielle Dämpfer integriert, die der hochfrequenten Oszillationsbewegung des Tremors entgegenwirken, aber beabsichtigte Bewegungen zulassen. Nach der Entwicklung der ersten Prototypen wurden alles in allem drei Generationen von Rotationsbremsen entwickelt, bis das Team die Ideallösung erreichte.“ Han Titulaer, Vertriebsingenieur, Backoffice BeNeLux, ACE Stoßdämpfer, Langenfeld www.antriebstechnik.de antriebstechnik 2023/01-02 35