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antriebstechnik 7/2015

antriebstechnik 7/2015

Robust gegen weiße

Robust gegen weiße Strukturen Neuer Wälzlager-Werkstoff trotzt „White Structure Flaking“ Peter Kohl Das „White Structure Flaking“ ist ein bekanntes Schadensbild an Wälzlagern in der Windenergietechnik. Seine Ursache ist noch nicht vollständig erforscht. Aber intensive Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zeigen, dass die Auswahl von Werkstoff und Wärmebehandlung die Schadenswahrscheinlichkeit reduzieren kann. – Das hilft auch anderen Bereichen der Antriebstechnik. Windenergieanlagen (WEA) zählen zu den besonderen Herausforderungen für die Antriebstechnik: Sehr anspruchsvoll sind Anlagen mit Getrieben. Hier hat sich der Einsatz von Wälzlagern bewährt, für deren Einsatz im Vergleich zu anderen Konzepten vier Pluspunkte sprechen: geringer Platzbedarf, bessere Führungsgenauigkeit, keine besondere Berücksichtigung von Anfahrzuständen und geringe Verlustleistung. Allerdings kann in seltenen Fällen bei manchen Wälzlagern das sogenannte „White Structure Flaking“ (WSF) auftreten. Es handelt sich dabei um Gefügeveränderungen unter der Oberfläche der Lagerlaufbahnen in einem relativ frühen Betriebsstadium der Windenergieanlage. Diese Veränderungen schwächen den Werkstoff und können zu Rissen, Abblätterungen und damit zu einem frühzeitigen Ausfall des Wälzlagers führen. Die Schäden bildeten sich z. B. bereits nach kurzer Einsatzzeit trotz Einsatz des bewährten und einwandfreien Wälzlagerstahls SUJ (100Cr6). Bekanntes Problem Peter Kohl ist Team Leader Mechanical Drives im European Technology Centre bei der NSK Deutschland GmbH in Ratingen Dabei ist das Phänomen „White Structure Flaking“ nicht neu. Bereits in den 1990ern sind Frühausfälle bei Lagern im Automobilsektor an Lichtmaschinen oder Spannrollen aufgetreten. Die umfangreichen Untersuchungen zeigten bereits damals genau drei große Einflussfaktoren: 1. Der Schmierstoff setzt Wasserstoff frei, der sich im Lagerwerkstoff ansammelt und das Gefüge des Werkstoffes verändert. 2. Das Wälzlager gerät durch die Belastung oder durch seine Geometrie in Schlupf- oder Gleitbewegungen (Slip-Effekt). 3. Es kommt zu einer elektrischen Aufladung von Antriebselementen, weil sie wegen der isolierenden Wirkung des Schmierstoff-Films nicht optimal geerdet sind. Bei den typischen Automobillagern sind neben werkstofftechnischen Entwicklungen im Bereich des Wälzlagerstahls weitere Abstellmaßnahmen bei der Anwendung oder beim Schmierstoff möglich. Heute ist WSF beim Auto kein Thema mehr. Bei Windenergieanlagen hingegen ist zusätzlicher Untersuchungsaufwand nötig um - speziell für diese Größenordnung von Lagern – Lösungen zu liefern. Fachleute des Lagerspezialisten NSK wiesen nach, dass bestimmte Öle wegen des Freisetzens von Wasserstoff die Ausfallrate von Lagern sogar um den Faktor 10 bis 100 erhöhen können: Das Gefüge wandelt sich zu einer feinkörnigen, weißen Struktur, in der sich Risse bilden, die zur Oberfläche nach oben wandern. Es entstehen je nach Lage bzw. Ausformung der Struktur Ausbrüche oder Axialrisse. Mit Schmetterlingen zum Ausfall Besonders bemerkenswert ist die beschleunigte Entwicklung sogenannter Butterflies. Sie stellen den „normalen, berechenbaren“ Ermüdungsprozess dar, der aber unter Wasserstoffeinfluss stark beschleunigt wird. Bei diesen Butterflies handelt es sich um nicht-metallische Einschlüsse (NME), an denen sich durch die kontinuierlich wiederkehrende Belastung ebenfalls Gefügeveränderungen bilden, die bei weiterer Belastung zum Ausbruch oder Riss führen. NME stammen aus dem Stahlherstellungsprozess (aus Reaktionen zur Desoxidation der Stahlschmelze) und sind sulfidischer oder oxydischer Natur. Diese Einschlüsse lassen sich aufgrund des Prozesses nicht vermeiden. NSK setzt dagegen auf sehr reine Stähle, bei denen die nicht-metallischen Elemente sehr klein ausfallen und fein verteilt sind. Diese feine Verteilung führt zu harmonischen Belastungszuständen im Werkstoff. 12 antriebstechnik 7/2015

TITEL I WÄLZ- UND GLEITLAGER An den nicht-metallischen Einschlüssen sammelt sich jedoch bevorzugt der aus dem Öl austretende Wasserstoff an, der z. B. auch bei elektrischen Entladungsvorgängen freigesetzt wird. Das Gefüge wandelt sich in eine feinkörnige, weiße Struktur, die zu einem frühzeitigen Lagerausfall führen kann. Diese Ursachen für derartige Schadensfälle lassen sich auch für Experten oft nur schwer ermitteln, weil die Butterfly-Bildung auch bei Ausfällen durch normale Materialermüdung auftreten. Da sich aber die Schmierstoffe und die Anwendung selbst häufig nur geringfügig beeinflussen lassen, setzt NSK auf die Entwicklung eines besonderen Werkstoffes. Speziell bei der Definition seiner Wälzlagerstähle greift das Unternehmen auf einen großen Erfahrungsschatz zurück. So liefert bereits die Erfahrung mit dem Werkstoff STF (Super-Tough) einen großen Beitrag zur Entwicklung des neuen Werkstoffes. STF wurde ursprünglich für Anwendungen mit hohen Verschmutzungen entwickelt (z.B. in Stahlwerken), findet aber heute auch verstärkt Einzug in Windenergieanlagen. Neue Werkstoffe bringen Lösung Als Ergebnis umfangreicher Versuche und Materialtests entstand der neue Werkstoff AWS-TF (Anti-White-Structure-Tough). AWS-TF ist eine spezielle Legierung in Verbindung mit einem optimierten Wärmebehandlungsverfahren (Carbonitrieren: Legieren mit Kohlenstoff und Stickstoff, eine besondere Art des Einsatzhärtens), bei dem die Entstehung und Ausbildung von „weißen Strukturen“ und die daraus resultierenden Risse oder Ausbrüche stark verzögert werden. Der Effekt zeigt sich in zwei wesentlichen Ausprägungen: 1. Die Bildung von „weißen Strukturen“ wird verlangsamt. 2. Die Entstehung von Rissen sowie deren Fortschreiten wird verzögert. Da es bei der Entwicklung eines Wälzlagerstahles auch auf die bisherigen Eigenschaften ankommt (Verschleißverhalten, Härte, Wärmebehandlung, Fertigungsparameter usw.), wurden diverse Tests durchgeführt. Sie ergaben ein aktuelles Größenspektrum, mit dem sich typische Lagergrößen der Generatorwelle und der Zwischenwelle abdecken lassen. Erste Projekte mit Industriepartnern sind in der Realisierungsphase und gehen in die Erprobung. Die Entwicklungsarbeit ist damit aber nicht abgeschlossen. Neben der reinen Werkstoffentwicklung folgen weitere Tests, die sich mit der „Beschichtung“ Brünieren befassen. Eine Brünierung von Stahlkomponenten ist keine Beschichtung im eigentlichen Sinn, sondern eine Mischoxidschicht, die eine dunkle bis schwarze Farbe kennzeichnet. Dabei werden die Komponenten nach einem Reinigungsverfahren in temperierte Laugen oder Salzschmelzen eingelegt und nach einer definierten Zeit entnommen. Auf der Oberfläche entsteht eine ein bis zwei µm starke, ausoxidierte Schicht, die eine Sperre für den freigesetzten Wasserstoff bildet und das Eindringen in den Werkstoff verhindern soll. Dieses Verfahren lässt sich - auch im Zusammenspiel mit dem neu entwickelten Werkstoff AWS-TF - bei vielen Lagertypen anwenden. 01 Das Gefüge wandelt sich zu einer feinkörnigen weißen Struktur, die zur Rissbildung führen kann 02 Das Gefüge wandelt sich zu einer feinkörnigen, weißen Struktur, in der sich Risse bilden, die zur Oberfläche nach oben wandern 03 Die drei Phasen der Bildung von „White Structure Flaking“ 04 Durch den speziellen Werkstoff AWS-TF werden die Wasserstoffdiffusion, die Bildung von „White Structure Flaking“ und die Rissbildungen und deren Ausbreitung verzögert 01 02 03 Gesamte Antriebstechnik profitiert Die Entwicklungen, die das Technologiezentrum von NSK erarbeitet, stehen natürlich nicht nur einzelnen Anwendungen zur Verfügung. WSF tritt auch in Standard-Industriegetrieben auf, wurde in der Vergangenheit aber nicht so stark in den Fokus gestellt, weil sich Ausfälle durch WSF häufig mit anderen Fehlerbildern überlagern. Die starken Diskussionen in der Windenergie-Branche sorgen somit dafür, dass der gesamte Bereich der Antriebstechnik von den Lösungen profitiert. Unterm Strich: Die Untersuchungen beweisen, dass es optimale Antriebslösungen für spezielle Anwendungsfälle nicht aus dem Katalog geben kann. Besondere Aufgabenstellungen erfordern umfangreiche technische Detailarbeit, die alle Komponenten eines Systems berücksichtigt. 04 www.nskeurope.de antriebstechnik 7/2015 13